Samstag, 20. Oktober 2012

Jaja, ich lebe noch.

Ich habe mein Versprechen gebrochen und ewig nichts geschrieben, tut mir Leid, falls jemand darauf gewartet hat. Ich mache jetzt seit 14 Monaten die SCD und ja, es war nicht immer ganz leicht. Es gab viele Höhen und Tiefen, aber das Wichtigste ist: Ich nehme immer noch keine verschreibungspflichtigen Medikamente und es ging mir noch nie so lange so gut wie in den letzten 14 Monaten.

Im Moment bin ich sogar beschwerdefrei! Ich gebe es zu: ich wollte hier in meinem Blog nicht zugeben, dass nicht alles immer reibungslos lief. Schließlich will ich euch ja davon überzeugen, dass ihr ebenfalls mit dieser Ernährung anfangen sollt, falls ihr M.Crohn oder Cu oder Zöliakie oder Reizdarm habt. Und nicht davon reden, wie schwierig es manchmal sein kann, und dass man nicht immer symptomfrei ist. Und das hat mich davon abgehalten, wieder mit dem Schreiben zu beginnen.

Jetzt habe ich aber eine Facebookgruppe gegründet und auf dem Paleowiki eine SCD-Definition geschrieben. Das ist auf jeden Fall nochmal einen eigenen Post wert.

Hier gibt es eine deutschsprachige Facebookgruppe zum Thema SCD;
und hier gibt es für die, die nicht auf Facebook sind, eine Yahoo-Mailingliste;
und hier habe ich eine Definition geschrieben.

Sonntag, 29. Januar 2012

Wie ich zur SCD kam – oder wie sie mich doch noch einholte


NACHTRAG: Dies ist einer der letzten Blogeinträge zum Thema Ernährung und Gesundheit auf dieser Adresse. Alle vergangenen und zukünftigen Einträge zu diesem Thema gibt es künftig auf http://www.urgesundheit.de/. Dieser Blog widmet sich künftig Themen außerhalb von Ernährung.

Vor fast drei Jahren surfte ich gerade mal wieder gesundheitssuchend im Internet herum, diesmal um herauszukriegen, ob es nicht irgendwo auf diesem bescheuerten Planeten noch jemanden außer mir gibt, der wegen Remicade, diesem unfassbar teuren Medikament (um die 1000 Euro pro Infusionsbeutel) gleich beim ersten Mal einen anaphylaktischen Schock erlitten hat. Mein Arzt hat nämlich die tolle Pharmafirma angerufen, und die hat gesagt, sowas sei noch nie passiert. Aber das sagen die sicher jedes Mal.

Ich surfte also herum und landete dabei auf der Seite einer amerikanischen Selbsthilfegruppe für Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa. War ja nicht das erste Mal, dass ich online auf so etwas gestoßen bin. Ich hatte mich vor Jahren bei der DCCV (Deutsche Crohn und Colitis Vereinigung) im Forum angemeldet, aber dann schnell keine Lust mehr gehabt. Warum es diesmal radikal anders war, kann ich eigentlich nicht so hundertprozentig sagen. Erstens war ich inzwischen mehrmals durch die Hölle gegangen (einige Male davon allein durch Arztfehler und ergo Colitis-Schub während meiner Schwangerschaft – das ist aber einen eigenen Blogeintrag wert) und daher konnten mich die Berichte anderer Patienten nicht mehr schocken. Früher hatten mich solche Foren nämlich immer eher abgeschreckt, weil ich immer noch hoffen und glauben wollte, dass es bei mir alles schon nicht so schlimm werden würde. Ein anderer Faktor ist sicher, und jetzt kommt’s ‑ Vorsicht Klischeekeule ‑ die amerikanische Mentalität. Normalerweise mag ich’s ja nicht, wenn Deutsche (also in dem Fall ich) über die deutsche Mentalität meckern und sich damit ja selbst ausnehmen und darüber stellen, als wären sie kein Teil davon. Aber bei diesem Thema mach ich das jetzt trotzdem (Ha!).

Endlich daheim

Man kann vielleicht schon was an der Wortwahl ablesen, denn „Selbsthilfegruppe“ klingt irgendwie doch nicht so herzlich wie „support community“, oder? Und die Herzlichkeit war wirklich überwältigend. Ich hatte mich kaum angemeldet und mein Profil halbwegs ausgefüllt, da kamen schon die ersten Willkommensgrüße und Freundschaftsangebote auf meine Pinnwand geflattert. Und damit fing es an, damit wurde mein Leben besser und wandelte sich binnen kürzester Zeit radikal. Zum ersten Mal war ich von Leuten umgeben, die GENAU DAS GLEICHE WIE ICH durchgemacht hatten und GENAU DAS GLEICHE WIE ICH darüber dachten. Nach viel zu langer Zeit wurde ich nun dieses Nagen in meiner Brust los, dieses Nagen, dass ich sicher doch irgendwie irgendwas falsch gemacht habe, denn sonst wäre ich doch nicht einfach so aus heiterem Himmel so doll krank geworden. Dieses Nagen, dass bestimmt niemand sonst solche bescheuerten Gedanken hat. Dieses Nagen, dass sicher nur ich diese Krankheit so persönlich nehme und überhaupt viel zu sensibel bin und den Leuten ihre blöden Bemerkungen und Tipps viel zu übel nehme, weil die das doch sicher alle nur gut meinen. Dieses Nagen, dass ich sicher die einzige mit einer solchen Erkrankung bin, die sich einfach nicht damit abfinden kann und will, dass ihre Wünsche und Hoffnungen weniger wert sein sollen als die anderer – ja sogar vom Arzt belächelt werden. Kurz gesagt, dieser ständige Vorwurf an mich selbst, dass ich nicht glücklicher bin, als ich es nun mal bin.

Ich fühlte mich also akzeptiert und als ganz normaler Mensch mit einer ganz normalen Reaktion auf eine völlig inakzeptable Scheißkrankheit, die nur mit Scheißmedikamenten behandelt wird, und leider auch oft von Scheißärzten. Jippie! Ich verbrachte unzählige Stunden vor dem Computer, jeden Tag, oft bis spät in die Nacht. Jeder Bereich meines Lebens erschien mit einem Mal leichter, als hätte sich ein bleischwerer Schleier gehoben, der bis dato alles bedeckt hatte. Wenn mir jemand mit Unverständnis begegnete – scheißegal, ich kann ja nachher meinen Kumpels davon erzählen und mit denen über die ahnungslosen Normalos abfeiern, hihi!

Eine Odyssee durch Experimente

Ich fand es natürlich auch ganz nett, immer mal wieder neue Hinweise auf neue Behandlungsmethoden zu bekommen, aber das stand für mich die erste Zeit nicht im Vordergrund. Ich genoss es einfach, mit meiner ganzen Traurigkeit, Wut und Verzweiflung nicht mehr allein zu sein – und sie dadurch schwinden zu sehen. Ich hatte eh das Gefühl, schon alles ausprobiert zu haben. In den Prä-Community-Jahren hatte ich all dies hier teils ausführlich erprobt: Yoga, Meditation, Autogenes Training, Psychotherapie, Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin, Schüssler-Salze, Homöopathie, Ayurveda (Weihrauchkapseln), Fischöl, klassische Phytotherapie, Irisdiagnose, Narbenentstörung, Magnetfeldtherapie, manuelle Therapie, Autosuggestion, Ausdauersport, Kolostrumkapseln, geriebene Mangokerne (wieder Ayurveda), unendlich viele Tees und Nahrungsergänzungsmittel und sicher noch einiges andere, das mir jetzt nicht einfällt.

Mir wurde von den Ärzten immer gesagt, und dies ist auch in allen schulmedizinisch geprägten Publikationen zu lesen, dass es pupegal ist, was ich esse, und dass die Erkrankung mit Ernährung nicht zu beeinflussen sei. Der einzige CED-spezifische Rat, der mir zum Thema Ernährung einmal von einem Arzt gegeben wurde, war, in aktiven Phasen (Schub) möglichst wenige Ballaststoffe zu mir zu nehmen und mich ansonsten ballaststoffreich zu ernähren. Hmpf. Und was mache ich, wenn es mir so mäßig bis schlecht geht und ich einen Schub abwenden will? Tja, dazu und zu vielen anderen Dingen konnte mir keiner was sagen.

Erste Begegnung

Eine Community-Freundin gab mir zwischendurch immer wieder Hinweise auf diverse alternative Behandlungsmöglichkeiten, und mehrfach schrieb sie mir Nachrichten zum Thema Ernährung. Sie war selbst nicht erkrankt, hatte ihre an Colitis erkrankte Tochter aber mit einer gluten- und milchproduktefreien Ernährung so gut wie symptomfrei bekommen, wie sie nicht müde wurde zu berichten. Sie ging mir und anderen damit gehörig auf die Nerven. Wenn es SO einfach wäre, würden wir es doch alle tun, oder? Und außerdem wäre das doch dann bekannt, wissenschaftlich belegt und von Ärzten verordnet, jawoll.

Die Freundin ließ nicht locker und erwähnte unter anderem SCD und eine Diät mit dem Namen Paleo (zu Deutsch: Steinzeiternährung). Ich versicherte ihr immer wieder, dass ich bisher noch nie einen wesentlichen Zusammenhang zwischen dem, was ich aß, und wie ich mich fühlte hatte feststellen können ‑ und dass ich eigentlich froh war, dass wenigstens meine Essensvorlieben bisher von der Krankheit noch weitestgehend unbelangt geblieben waren. Ich hatte außerdem die Nase voll vom Herumexperimentieren. Und ein bisschen hatte ich auch was dagegen, dass mir auch noch in diesem geschützten Rahmen jemand Vorhaltungen machte, nur nicht genug Willensstärke zu haben, „endlich wieder gesund zu werden“.

Ein Ende mit Schrecken - und ein Neuanfang

Wie es das Schicksal wollte, ging es im Admin-Team der Webseite drunter und drüber, so dass von heute auf morgen die Community Geschichte war. Ich war inzwischen zu einer Moderatorin avanciert und fand meine Schäfchen nach und nach auf Facebook wieder. Natürlich nicht alle – aber die Leute, die mir am meisten ans Herz gewachsen waren. Gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach einem neuen virtuellen Zuhause. Nach einigen kollektiven Stippvisiten auf anderen Community-Webseiten hatten wir zwar kein zufriedenstellendes Heim, aber einige neue Freunde gefunden – und manche von uns hatten ihren Horizont erweitert. 

Das galt jedenfalls für mich, denn ich hatte jemanden kennengelernt, der gerade dabei war, einen Dokumentarfilm über Leute zu drehen, die ihr Leben mit CED mit alternativen Methoden zu verbessern suchten und der Schulmedizin in unterschiedlichem Ausmaß, aber meist gänzlich den Rücken gekehrt hatten. Den Filmemacher traf ich auch auf Facebook wieder, wo es eine Fanseite für sein Filmprojekt mit dem Namen „Wanted: Crohn’s End“ gibt. Er selbst heißt Reid und hat seit 15 Jahren Morbus Crohn und befolgt seit 7 Jahren die SCD-Ernährung. Seit 5 Jahren nimmt er keine Medikamente mehr.

Ich fing an, über die SCD zu lesen und meinen Kumpel Reid darüber auszufragen. Es dauerte noch eine Weile, bis ich mich endlich aufraffte. Ich probierte noch die eine oder andere unkonventionelle Methode, von der ich ebenfalls durch ihn erfuhr, doch die anfänglichen Erfolge hielten nicht an (davon erzähle ich sicher ein anderes Mal). Ich war zu dem Zeitpunkt zwar relativ stabil, aber ich nahm ja auch seit mittlerweile 3 Jahren ohne Unterbrechung lokal wirksames Kortison (Budenofalk) und hatte davon inzwischen fast so schlimme Nebenwirkungen wie früher von systemisch wirksamem Kortison (Prednisolon). Ich musste die Dosis immer wieder kurzfristig erhöhen, wenn es mir mal wieder mehr als zwei, drei Tage schlecht ging, was immer noch ständig der Fall war. An ein Absetzen war also nicht zu denken. So biss ich in den sauren Apfel, lud mir präzise Anleitungen für den Einstieg herunter, und los ging’s.

Vorher besprach ich das Ganze gründlich mit meinem Mann, der zum Glück voll hinter mir stand und geradezu begeistert war. Da er häufiger kocht als ich, betrifft es ihn ja auch sehr. Er stürzte sich gleich mit mir gemeinsam in die Recherche und druckte sich Wissenswertes aus.

Erste Erfolge

So ging die Reise los, und um mal ein wenig vorzugreifen, das ist jetzt 6 Monate her und ich bin sozusagen ein neuer Mensch. Also, eigentlich fange ich ein wenig an, der Mensch zu sein, der ich vor der Krankheit war. Ich nehme auch 6 Monate lang schon keine Medikamente mehr, jawohl. Nicht zu fassen, oder? Anfang Januar hatte ich eine partielle Darmspiegelung, und voilà – keine Spur einer Entzündung zu sehen. Das war in den letzten 11 Jahren nie der Fall gewesen!

Mit das Wichtigste ist, dass ich keine so schlimme Angst mehr habe. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es tatsächlich Lebensmittel gibt, die ich gut vertrage, und andere, die – zumindest im Moment noch – Symptome auslösen. Welche ich gut vertrage, versuche ich nach und nach herauszubekommen, und es ist nicht ganz einfach. Es ist tatsächlich ein einziges großes Experiment, und manchmal nervt es. Aber ich bin mit meinen Reaktionen auf Lebensmittel inzwischen so weit vertraut, dass ich eine gewisse Sicherheit gewonnen habe und nicht jedes Mal, wenn ich mal eine Woche lang ein wenig Durchfall habe, gleich in Panik verfalle, dass die Diät nicht funktioniert und ich sicher bald wieder Kortison nehmen muss.

Und natürlich habe ich auch wieder eine Community, die mir hilft. Auf Facebook gibt es die wunderbare Gruppe „SCD Support Group“, mit der ich mich austausche und die mir schon mehr als einmal aus einer Sinnkrise geholfen hat, vor allem zu Beginn. Der Anfang ist schwer – aber es lohnt sich, durchzuhalten!

Die SCD-Ernährung…

…ist im Wesentlichen eine Steinzeiternährung. Das bedeutet, dass man komplett auf die folgenden Lebensmittel verzichtet:

Getreide (Mehl, Soßenbinder, Nudeln)
Kartoffeln und Reis
Milch, Joghurt, Sahne, Quark
Zucker jeglicher Art (auch Dextrose)
Stärke (auch Maltodextrin)
Soja
Kichererbsen
Mais
„natürliche“ und künstliche Aromen
Margarine

Die folgenden Lebensmittel sind jedoch erlaubt:

Zum Süßen: Honig
Butter
Käse (außer Frischkäse)
Alles an Fleisch und Fisch
Fast jedes Gemüse bis auf (s. oben)
Wurst ohne Dextrose, Laktose etc.
Nüsse
Öle und Fette (abgesehen von Margarine)
Obst

Grundlage einer Steinzeiternährung ist immer der Gedanke, dass unser Erbgut sich seit der Steinzeit nicht gewandelt hat, unsere Lebens- und Essensgewohnheiten dagegen sehr. Unser Körper kommt dementsprechend nicht mit dem klar, was er in unserer heutigen Zeit antrifft, und reagiert mit Krankheit.

Die SCD-Ernährung stellt gegenüber der Paleo-(Steinzeit-)Ernährungstheorie jedoch eine Sonderform dar, indem sie auf die Heilung von Krankheiten abzielt und nicht anstrebt, idealerweise von allen Menschen befolgt zu werden. Ursprünglich ging es bei der SCD vor allem um die Ausheilung chronisch kranker Därme bei CED, inzwischen jedoch hat sich gezeigt, dass mit ihr auch bei anderen so genannten Autoimmunerkrankungen frappierende Erfolge erzielt werden.

Heilung?

Wenn ich hier von „Heilung von Krankheiten“ rede, meine ich es im Sinne von „to heal“ und nicht „to cure“. Diesen feinen Unterschied gibt es im Deutschen nicht, daher sprach ich auch eben von Ausheilen und nicht von Heilen. Man kann sich trefflich darüber streiten, ob die SCD eine endgültige Heilung im Sinne von „cure“ verheißt oder nicht. Die meisten meiner Mitstreiter sehen sich nicht als geheilt, aber eben auch nicht mehr als krank – sie sind eben „healed“. Und solange sie die Diät befolgen, geht es ihnen prima. Andere sind nach einigen Jahren auch in der Lage, wieder nicht erlaubte Lebensmittel in ihren Speiseplan aufzunehmen, ohne dabei Rückschläge zu erleiden – sind sie nun geheilt, für immer? Ich finde schon, aber man darf so etwas ja bei einer „chronischen und unheilbaren Krankheit“ nicht sagen, ohne sofort als unseriös zu gelten.

Über die Entstehung der SCD und die Theorie, die dahintersteht, schreibe ich bald mehr.

Hier gibt es eine deutschsprachige Facebookgruppe zum Thema SCD;
und hier gibt es für die, die nicht auf Facebook sind, eine Yahoo-Mailingliste;
und hier habe ich eine Definition geschrieben.

Dienstag, 24. Januar 2012

SCD (Specific Carbohydrate Diet) bzw. die Spezielle Kohlenhydratdiät

NACHTRAG: Dies ist einer der letzten Blogeinträge zum Thema Ernährung und Gesundheit auf dieser Adresse. Alle vergangenen und zukünftigen Einträge zu diesem Thema gibt es künftig auf http://www.urgesundheit.de/. Dieser Blog widmet sich künftig Themen außerhalb von Ernährung.

Heute habe ich etwas ganz Besonderes vor und bin deswegen schon ganz aufgeregt. Ich hatte in letzter Zeit sehr viel zu tun, sonst hätte ich dies hier schon viel früher getan. Ich mache heute etwas, von dem ich mir ganz sicher bin, dass es etwas Gutes ist, und von dem ich die Hoffnung habe, dass es manchen Menschen das Leben erheblich erleichtern kann – ich beginne hier und heute den (meines Wissens) ersten deutschsprachigen Blog über SCD.

Ein paar einleitende Worte, ähem. 

Ich habe seit 11 Jahren die Diagnose Colitis ulcerosa. Im Moment ist sich mein Gastroenterologe jedoch nicht ganz sicher, ob es nicht doch die andere der beiden chronisch entzündlichen Darmerkrankungen ist, nämlich Morbus Crohn. Egal, ich habe jedenfalls 10 Jahre lang an Colitis ulcerosa gelitten und seit einem Jahr eben an Wer-weiß-was.

Bei den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) entzündet sich der Darm aus unerfindlichem Grund und bleibt dann mal mehr, mal weniger entzündet. Weil man eben den Grund nicht kennt, ordnet man die Krankheiten pauschal den Autoimmunkrankheiten zu. Die Symptome sind extremer Durchfall (in akuten Phasen ggf. über 20mal pro Tag), Gewichtsverlust, Blutverlust, Bauchschmerzen, Übelkeit, Nährstoffmangel etc. Viele Patienten müssen irgendwann operiert werden, um Teile des Darms zu entfernen, manche auch viele Male, manche leben irgendwann mit einem künstlichen Darmausgang. Die Diagnose ist ein Lebensurteil – man wird zu einem Leben mit der Krankheit verurteilt, denn Aussicht auf Heilung gibt es nicht.

Die medikamentöse Behandlung ist mit vielen Risiken und Nebenwirkungen verbunden. In akuten Phasen gibt es über lange Zeit Kortison, welches unter anderem zu dem bekannten „Mondgesicht“ führt und daneben noch viele Langzeitrisiken wie z.B. Osteoporose und Diabetes in sich birgt. Manche Patienten werden vom Kortison abhängig und schaffen es kaum, davon wegzukommen. Es gibt auch andere Medikamente wie z.B. Azathioprin und 6-Mercaptopurin sowie Methotrexat, die allesamt – dem Kortison nicht unähnlich – die Immunantwort unterdrücken sollen. Eine relativ neue Entwicklung sind die TNF-Antagonisten, auch Biologika genannt, unter ihnen Remicade, Humira, Cimzia und eventuell Tysabri, bei denen ebenfalls ein Teil des Immunsystems blockiert wird. All diese Medikamente sind mit zum Teil erheblichen Nebenwirkungen und Risiken verbunden, insbesondere stehen einige der Biologika im Verdacht, krebserregend zu wirken. Das ist besonders ungünstig, da CED-Patienten ohnehin ein vielfach erhöhtes Darmkrebs-Risiko haben.

Nun zu mir... 

Da ich eine schwere Form der Colitis mit vielen Komplikationen habe, ist die Krankheit für mich eine große Belastung. Die Diagnose – kurz nach meiner letzten Diplomprüfung  war ein Schock und hat mein Leben für immer in jeder Hinsicht zutiefst verändert. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ein verhältnismäßig harmloses Medikament mir zum größten Verhängnis wurde. Es war das Colitis-Standardmedikament Mesalazin (5-ASA, Markenname Pentasa, Salofalk oder Claversal), welches ich über viele Jahre jeden Tag einnahm und für den Rest meines Lebens nehmen sollte. Ich gehörte leider zu den wenigen Patienten, deren Nieren darauf mit einer Entzündung reagierten. Da der Zusammenhang zwischen meinen schlechten Nierenwerten und dem Medikament zunächst von der Ärzteschaft bezweifelt wurde, vernarbten und schrumpften meine Nieren immer weiter, bis ich nur noch etwa 30 Prozent meiner Nierenfunktion hatte. Das ist leider immer noch der Fall und wird sich wohl auch nicht mehr ändern. Ich darf nur darauf hoffen, dass meine Nierenfunktion sich in naher Zukunft nicht noch weiter verschlechtert.

Natürlich konnte ich das Mesalazin dann nicht mehr nehmen und dummerweise auch viele andere Medikamente nicht mehr, unter anderem Methotrexat, da dieses ebenfalls die Nieren belastet und daher nicht für Patienten mit Niereninsuffizienz in Frage kommt. Gegen Azathioprin hatte ich (noch vor der Nierengeschichte) eine Unverträglichkeitsreaktion, und Jahre später, bei der ersten Infusion mit Biologika (Remicade), erlitt ich einen anaphylaktischen Schock und kam in die Notaufnahme. Mit anderen Worten, für mich gab es –abgesehen von Kortison – eigentlich keine medizinische Behandlungsoption mehr.

Die Seele geht am Stock. 

Ich will nur ganz kurz das Thema der psychischen Folgen streifen, denn ich vermute, dass die meisten sich schon in etwa vorstellen können, was eine Krankheit wie diese mit der Psyche macht. Aber so ganz kann man es sich eben doch nicht vorstellen, bis es einen selber trifft. „Keine Heilung“ – allein diese Aussage ist wie ein Faustschlag mitten in die Seele. Plötzlich ist man ganz allein, während alles um einen herum seinen Gang geht. Hoffnungen und Wünsche – alle auf Eis gelegt. Eben noch stand mir die Welt offen, und nun – ein Leben voller Krankheit und Schmerz? Nicht nur das – es ist eben auch ein Leben mit der Demütigung. Weil man über explosiven, blutigen Durchfall und Killer-Blähungen eben nicht mal so in der U-Bahn mit dem Sitznachbarn plaudert wie andere über Arthrose im Knie. Weil Leute sich angewidert wegdrehen, wenn man erklärt, warum es einem mies geht. Weil deswegen auch kaum einer über die CED Bescheid weiß, auch wenn sie weit häufiger sind als beispielsweise Multiple Sklerose. Weil deswegen auch die medizinische Forschung sich lieber populäreren Krankheiten zuwendet. Und weil man schließlich monatelang durch das Kortison komplett entstellt ist oder sich zumindest so fühlt.

Zur Sache. 

All das hat sich aber jetzt geändert, da ich seit August 2011, also seit fast 6 Monaten, eine spezielle Ernährung befolge. Diese ist ein absoluter „Geheimtipp“ unter CED-Patienten. In Deutschland ist sie kaum bekannt, in den USA und Kanada dagegen weit verbreitet. Allerdings nur unter Patienten, nicht unter Ärzten. Dabei ist die SCD gar nicht neu. Es gibt sie schon seit den 1950ern. Aber da sich mit dieser Diät kein Profit erzielen lässt, wird sie auch nicht erforscht. Und Studien wird es dazu auch nie geben, allein schon weil das viel zu teuer ist und den Pharmaunternehmen nichts einbringt, ja ihnen sogar massive Umsatzeinbußen bescheren könnte. Man kann abgesehen davon ja auch schlecht zu einer Ernährungsform eine Plazebo-kontrollierte, randomisierte, doppelt-blinde Studie durchführen, denn es ist schwer einem Menschen zu verheimlichen, was er isst.

Ich habe seit Jahren durch ausgedehnte USA- und Australienaufenthalte vor und in der Studienzeit enge Kontakte zu diversen Menschen im englischsprachigen Raum und seit einigen Jahren auch zu Patientengemeinschaften im Internet. Dafür bin ich sehr dankbar, denn ohne diese Kontakte wäre ich nie auf die SCD gestoßen.

Leute, es ist jetzt kurz vor Mitternacht und ich habe vor lauter einleitenden Worten völlig den Faden verloren. Ich schreibe ganz bald, was die SCD genau ist, versprochen.

Hier gibt es eine deutschsprachige Facebookgruppe zum Thema SCD;
und hier gibt es für die, die nicht auf Facebook sind, eine Yahoo-Mailingliste;
und hier habe ich eine Definition geschrieben.

Freitag, 21. Oktober 2011

Warum wir heute ärmer sind

Ich lese immer wieder, dass wir in unserer Generation ja alle mehr Freizeit haben und einen höheren Lebensstandard als alle unsere Vorgängergenerationen. Dies wird als Ursache für alle möglichen gesellschaftlichen Phänomene zitiert, gute wie schlechte. Ich frage mich dann gelegentlich, ob unsere Medien wohl von einer geheimen Macht unterwandert sind, die sie sowas verbreiten lässt, damit die Menschen ruhig bleiben und die Schuld für ihre Probleme bei sich selbst anstatt bei den Rahmenbedingungen, der Wirtschaft, der Politik und ihren verkorksten Werten suchen. Wenn wir es doch alle so gut haben, dann bin ich wohl selbst schuld an meinem Bluthochdruck und meinem Burnout, aber nicht nur das, ich bin auch noch undankbar, schließlich haben meine Ahnen geackert wie blöde und protestiert und aufgeklärt und all sowas, damit ich heute auf der faulen Haut liegen kann, einer typhus- und cholerafreien Haut, und mich meinen Luxusproblemen widmen kann.

Zunächst mal zum Lebensstandard. Die meisten Leute meinen damit Geld, ich will jetzt mal etwas differenzierter sein und nenne es Kaufkraft. Ja, wir kaufen ein wie die Irren; wir sind eine Wegwerfgesellschaft. (Dessen wurde ich auch kürzlich bei O2 belehrt, als ich mich darüber beschwerte, dass das Akkuladegerät, welches natürlich nicht in der Garantie bzw. Gewährleistung enthalten ist, immer nach wenigen Monaten kaputtgeht – das sollte mich wohl irgendwie trösten). Aber bedeutet das im Ernst, dass der Durchschnittsbürger eine große Kaufkraft hat?

Natürlich nicht. Es gibt doch da seit, sagen wir mal, zwei Jahrzehnten so einen Trend, „zurück zu den guten Dingen“, um es in Anlehnung an den Slogan von Manufactum zu sagen - das ist eine Firma, die sehr hochwertige, oft handgemachte Haushaltsutensilien herstellt, und das ohne Einsatz von Kunststoffen oder –fasern, und ohne dass diese mit Strom betrieben werden müssten. Dinge, die so aussehen, als hätten wir sie von Oma geerbt, nur neu.

Wie praktisch alle vergleichbaren Läden und Hersteller richtet sich auch das Angebot von Manufactum gezielt an ein zahlungskräftiges Publikum. Ich sehe ja ein, dass man für Qualität mehr zahlen muss. Bloß kaufe ich dem Unternehmen dann seinen angeblichen Idealismus nicht ab, wenn in München der einzige Laden sich schon mal in einer Einkaufspassage befindet, in die sich ein Normalbürger nicht verirrt, da man dort nur die Sorte Boutique vorfindet, in der im Schaufenster gar keine Preise ausgewiesen sind. (Geld – mit sowas Profanem beschäftigt man sich doch hier nicht.) Aber: Woher hatte dann unsere Oma genau die gleichen Sachen? Die war doch gar nicht reich?

Und wie kommt’s, dass die Oma so feudal eingerichtet war? Okay, ihre Einrichtung hat sich 50 Jahre lang kaum verändert, aber es waren Sachen aus massivem Holz (damals hätte man verwirrt gefragt, na klar, was denn sonst, aus Pappe? – ganz genau!) und selbstredend von einem ausgebildeten Kenner seines Fachs in sorgfältiger Handarbeit hergestellt. Wer kann es sich heute noch leisten, seine Möbel bei einem Tischler in Auftrag zu geben? Nur ausgeflippte Bonzen, die in preisbefreiten Boutiquen und bei Manufactum einkaufen.

Wenn bei der Oma der Sparschäler stumpf war, hat sie den nicht weggeschmissen und einen billigen neuen gekauft, der dann nach einem Jahr wieder ersetzt werden musste, sondern sie hat ihn beim Messerschleifer wieder in Schuss bringen oder eine neue Klinge einsetzen lassen. Und das hat sie gemacht, ganz ohne dabei über Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung oder Umweltschutz nachzudenken. Socken wurden gestopft und hielten danach wieder fünf Jahre, Schuhe neu besohlt, und so weiter. Angenommen wir hätten die Muße, unsere Schuhe neu besohlen zu lassen, wäre das in den meisten Fällen Zeit- und Geldverschwendung, weil heute die Sohlen nicht mehr angenäht, sondern nur noch angeklebt werden, und der Schuh mitsamt der Sohle eine entsprechend kurze Lebenserwartung hat. Socken stopfen? Kann man machen, aber ich kann aus eigener Erfahrung bezeugen, dass die direkt neben der Stopfstelle sofort wieder einreißen, wenn ihre eingebaute Lebensdauer abgelaufen ist. Denn die scheint es durch die Bank bei Textilien, Möbeln und Haushaltswaren inzwischen zu geben. Built-in obsolescence heißt das: eingebauter Verfall.

Außerdem sind neue Socken ja so billig und unsere Zeit so knapp bemessen. Aber dazu später mehr.

Jetzt sollen sich alle mal ganz ehrlich melden, die bei Möbeln nicht sofort an IKEA denken. Aha, dachte ich‘s mir. IKEA ist heute so etwas von übermächtig, dass man als Normalverdiener nicht daran vorbei kommt. In der Preisklasse gibt es nichts Vergleichbares. Wobei ich anmerken möchte, dass IKEA nicht unbedingt so richtig billig ist. Richtig billig sind Roller oder Poco, aber deren Möbel sehen auch wirklich bockhässlich aus. Wer also kein Arzt, Anwalt oder Vorstandsvorsitzender ist, aber dennoch keine Schrankwand will, die „Hartz IV“ schreit, kauft bei IKEA. Außerdem tut IKEA wenigstens noch so, als operiere es umwelt- und sozialverträglich. Das ist doch nett.

IKEA ist heute sowas wie eine zentrale VEB Einrichtungswaren. Eine Anlaufstelle für alle. Ich kann inzwischen am Sofastoff erkennen, in welcher Saison sich jemand sein Ektorp gekauft hat. Wenn IKEA irgendwelche bestimmten Glühbirnen aus dem Sortiment nimmt, die man für seine IKEA-Lampen braucht, möchte man am liebsten beim europäischen Parlament eine Petition einreichen. Dann fällt einem wieder ein, dass wir ja hier eine freie Marktwirtschaft haben und man rein theoretisch zur Konkurrenz gehen könnte. Höhö.

Freilich, besonders lang halten die meisten Möbel nicht, und das, obwohl IKEA sich schon seit längerem seines Ramsch-Images entledigt hat. Dies wurde unter anderem dadurch erreicht, dass IKEA etwa auf Küchenmöbel und Sofas 10 Jahre Garantie gibt, wie in jedem Katalog nachzulesen ist. Natürlich bin auch ich Besitzerin einer IKEA-Küche sowie eines IKEA-Ektorp-Sofas. Letzteres besitze ich erst seit etwas über einem Jahr. Als ich vor kurzem an dem Möbelstück Mängel entdeckte, machte ich davon ein Foto und schickte mich an, auf der Internetseite eine Emailadresse oder eine Telefonnummer zu orten, mit deren Hilfe ich eine Reklamation durchführen könnte. Natürlich gab es so etwas nicht, sondern nur ein Formular. Dieses füllte ich sorgsam aus, gab brav die Quittungsnummer an, lud mein Bild hoch und schickte die Nachricht ab, woraufhin die Webseite mir meldete, ich müsse mich wohl einige Zeit gedulden, da die freundlichen Mitarbeiter alle Hände voll zu tun hätten. Nun ja, ich warte jetzt seit 6 Wochen, und ich habe den Verdacht, dass die freundlichen Mitarbeiter einen Scheiß auf mich und mein Sofa geben.

Insgesamt lässt sich feststellen: Vorbildliches Konsumverhalten und die Freude an hochwertigen (oder, wie man heute mit Bescheidenheit sagt, „wertigen“) Produkten ist den Wohlhabenden vorbehalten. Denn der Spruch „wer billig kauft, kauft zweimal“ stimmt zwar irgendwie, aber irgendwie eben auch wieder nicht ganz. Die Rechnung geht deshalb nicht auf, weil Billigprodukte heute so verflixt billig sind und Qualität so verflixt teuer, dass es sich aus rein finanzieller Sicht selbst auf lange Sicht eher lohnt, ein Wegwerfer zu sein. Und ja, aufs Geld müssen die aller-aller-allermeisten nun mal heutzutage wirklich täglich und bei jeder Anschaffung schauen, verdammt noch eins.

Klar, es macht auch Spaß, sich immer mal was Neues zu kaufen. Ich will ja gar nicht leugnen, dass es in unserer Gesellschaft auch gelegentlich das Phänomen gibt, dass man gerne etwas wegwirft, weil man dann einen guten Grund hat, sich etwas Neues zu kaufen. Und klar hatte die Oma kein zwei Meter breites Flachbildschirmfernsehempfangsgerät, das sie über 24 Monate abzahlen musste. Hat sie auch nicht vermisst. Bei solchen Sachen behaupte ich einfach, dass man sie nur will, weil andere sie haben. Auch wenn man sich dann irgendwelche rationalen Gründe ausdenkt, warum das eine vernünftige Anschaffung (oder noch vernünftiger: Investition) ist.

Wir haben also wenig Kaufkraft, und das obwohl wir zwischen 40 und sagen wir mal 70 Stunden pro Woche arbeiten, wenn wir Glück und damit Arbeit haben. Und dies wiederum trotz der ganzen Automatisierung, die uns doch angeblich so furchtbar viel unangenehme Arbeit abnimmt, so dass wir, glaubt man der Theorie, fast in dem Idealzustand angekommen sind, wo wir nur noch das Angenehme machen müssen. Also ich weiß ja nicht wie es anderen geht, aber ich komme vor lauter Arbeiten (obwohl das eigentlich der PC macht) gar nicht mehr dazu, mal die Wäsche zu waschen (obwohl das eigentlich die Waschmaschine macht) oder die Wohnung zu reinigen (obwohl das eigentlich der Staubsauger macht).

Der Bauer und seine Familie hatten früher eigentlich nur im Frühjahr und Spätsommer alle Hände voll zu tun. Da haben die sicher auch mal eine 70-Stunden-Woche hingelegt. Aber den Rest der Zeit ließ man es sich gutgehen, abgesehen vom Sockenstopfen und Durchkehren. Das, was bei uns heutzutage die „lästige Hausarbeit“ ist, zu der wir wegen unserer „eigentlichen Arbeit“ nicht mehr kommen, das war einmal die eigentliche Arbeit. Sicherlich umfangreicher als kochen und putzen, aber im Grunde nichts anderes: ernten, Vorräte einkochen, stricken, undsoweiter. (A propos: Die Kinderbetreuung war nicht halb so aufwändig wie heute, da es genug Tanten und Onkels und Omas und Opas und andere Kinder und außerdem autofreie Wiesen und Wälder gab, um diese zu unterhalten.) Und anders als in einem modernen Beruf war man kein Rädchen in einer großen Maschinerie, das einen abstrakten Beitrag zur deren Betrieb leistet, sondern man konnte die Früchte seiner Arbeit sehen, anfassen und davon unmittelbar satt werden. Und: es war alles Bio! Auch das ist heute unerschwinglich.

Den Preis für unseren so genannten Fortschritt, der in Wahrheit ein Rückschritt ist, zahlen wir mit Hektik – und unserer Gesundheit. Denn obwohl wir heute vielleicht im Durchschnitt ein paar Jahre älter werden, leiden wir immer früher, und dann bis ans Lebensende, an chronischen und/oder degenerativen Erkrankungen. Auch die Anzahl der von Depression Betroffenen steigt bekanntlich stetig. Wenn man dem in den Medien besungenen (relativen) "Wohlstand für Alle" Glauben schenkt, dann sind wir in unserer Generation ein Haufen Weicheier -- wie sonst lässt es sich erklären, dass wir nicht vor Freude, Kraft und Lebensmut strotzen?

Montag, 18. Juli 2011

Fußball

Heute morgen auf DeutschlandRadio (!!) im Interview (zwischen zwei Frauen): "Finden Sie nicht auch, dass viele Spiele einfach lahm waren und es nicht viel zu sehen gab?" "Ach, naja, ich finde man sollte den Frauen ihren Sport lassen, sie spielen so, wie es ihre körperlichen Gegebenheiten zulassen..." (Rest nicht gehört, weil abgeschaltet.) Hallo, wo sind wir hier, in den 70ern oder noch im Mittelalter? Erstens kann frau vom Fußball nicht leben, kann also nur *hobby*mäßig in der ersten Liga spielen und trainieren und muss hauptberuflich arbeiten und nebenher all den anderen Kram erledigen, den eine normale Frau so machen muss. Ist also nicht eher mangelnde Professionalisierung die Ursache? Zweitens können Frauen auch nicht so hoch oder weit springen, auch nicht so schnell laufen oder schwimmen wie Männer, trotzdem fragt niemand, ob Frauen-Leichtathletik oder Frauen-Volleyball irgendwie "minderwertig" sind. Drittens haben doch gerade viele Spiele bewiesen, dass es trotz der genannten Hindernisse packend, schnell, technisch versiert, athletisch und professionell zuging. Und kann man bitte aufhören, den Frauenfußball als eigene Sportart zu bezeichnen? Die Sportart heißt Fußball, verdammt noch mal.

Samstag, 9. Juli 2011

Top 10 Horrible Things to Say to a Distraught Friend

  1. It can’t be that bad. (Oh yes, it can.)
  2. If you had done this (xyz), all of this could have been prevented.
  3. You’re looking at this the wrong way.
  4. Everything happens for a reason.
  5. You need to focus on the good in this. (You mean things like ‘I’m not dead; not yet’?)
  6. There are people that are much worse off than you. (Right. Sorrow is only legit if you are living in a third-world country, are missing at least one limb, and/or have lost a loved one to natural disaster.)
  7. You’re making it all worse by being so negative.
  8.  When I was in your situation, I did (insert cool & composed course of action here). (Huh? You’ve NEVER been in my situation.)
  9. Look, my dog puked on my carpet this morning, so I have too much going on in my own life right now to listen to you complain.
  10. You should stop dragging (your partner, child, parents) down with your misery.

Sonntag, 3. Juli 2011

Ich weiß nicht, ob’s jemandem schon aufgefallen ist, Teil II

Ich weiß nicht ob’s jemandem schon aufgefallen ist, aber unser Sozialversicherungssystem ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Falls es das mal war. Ich hab ja schon in meinem letzten Eintrag hier darüber gemeckert, dass die Selbständigen so unverhältnismäßig stärker zur Kasse gebeten werden als ihre angestellten Mitbrüder und –schwestern. Ich gebe gern zu, dass es etwas beschränkt ist, diese Sichtweise nur auf Freiberufler und andere Einmann/frau-Betriebe anzuwenden. Jeder Selbständige und jeder Geschäftsführer, ja meinetwegen sogar CEO darf jetzt einstimmen, jawohl, sie haben mein Einverständnis und meine Genehmigung. Angenommen man schafft es als Selbständiger trotz aller im ersten Teil ausgeführten Hindernisse, sich etwas aufzubauen, und wagt den nächsten Schritt, nämlich hin zum Arbeitgebertum, so zahlt man sich dumm und dämlich an den Lohnnebenkosten, ja liebe Gewerkschaften, das ist leider wirklich so, und nicht immer nur eitles Kapitalistengejammer.

Für jeden Euro Bruttolohn legt der Arbeitgeber nur für seinen Eigenanteil an Krankenkasse, Pflegeversicherung, Rente und Arbeitslosenversicherung ca. 30 Cent drauf, schon klar, dass man sich da dreimal überlegt, ob man wirklich noch einen mehr einstellt oder lieber nicht. Unternehmer sind nun mal profitorientiert, daran ist zunächst mal nichts falsch, in gewissen Grenzen ist es sogar gut so, und es überrascht nicht, dass sie ihre Produktion unter diesen Umständen ins Billiglohn-Ausland verlagern, zumal es nicht verboten ist. (Wer gegen eine regulierte Wirtschaft ist und von den Unternehmen immer "freiwillige Selbstkontrolle", also freiwilliges Unterordnen des Profits gegenüber der Moral verlangt, ist leider realitätsfremd.)

Jedenfalls, um endlich zum Punkt zu kommen, ich hab mich schon immer gefragt, warum die Rente, das Arbeitslosengeld, die jetzigen Leistungen der Krankenkasse und die der Pflegeversicherung nicht einfach aus Steuergeldern bezahlt werden. Klar muss jeder dann mehr Steuern zahlen. Auch Unternehmen. Dafür aber keine Sozialabgaben mehr, und über die Steuer ließe sich viel einfacher für eine gerechte Verteilung sorgen.
Es wäre auch deswegen viel gerechter, weil dann Schluss wäre mit diesem merkwürdigen Prinzip der Anwartschaft. Erst gestern wieder habe ich (mit halbem Ohr) gehört, wie der Sigmar Gabriel im Fernsehen irgendwas darüber sagte, dass ein Rentner, der in seinem Leben so und so viele Jahre geschuftet hat, ja wohl im Alter mehr an monatlichen Geldzahlungen erwarten dürfe als ein Hartz-IV-Empfänger (oder so). Ich kann über solche Aussagen nur den Kopf schütteln. Was wäre, wenn ich sage: Der Rentner hatte Glück, dass er so lange Arbeit hatte. Der hatte Glück, dass er über so viele Jahre immer über ein geregeltes Einkommen verfügt hat. Der hatte verdammt noch eins Glück, dass er so viele Jahre überhaupt in der Lage war, in die ganzen Kassen (Gesundheit, Pflege, Arbeitslosigkeit, Rente) einzuzahlen bzw. einzahlen zu lassen. Jetzt bitte nicht vorschnell empören: Ich finde es ungeheuer wichtig, dass die Senioren einen guten Lebensstandard haben und ihren Lebensabend sorgenfrei und meinetwegen sonnengebräunt verbringen können. Aber dieses ganze Getue von wegen „nach den vielen Jahren der Arbeit hat man sich ja wohl das Recht erworben...“ geht mir echt voll auf den Eierstock. Als ob der die ganzen Jahre nicht für sich, sondern selbstlos für die Gesellschaft geackert, ja sich aufgeopfert hat. Pfff. 

Und genauso ist es auch beim Arbeitslosengeld. Warum muss man erst so und so lange angestellt sein, um Arbeitslosengeld so und so lange kriegen zu können, wenn man die Arbeit wieder verliert? In diesem System steckt doch das Gedankengut, man könne Arbeit bekommen (und, zumindest lang genug, behalten), wenn man sich nur ausreichend anstrengt. Wer noch nie oder nicht lang genug gearbeitet hat, wird über kurz oder lang mit Hartz IV bestraft.

Jetzt bitte nicht gleich verlangen, dass ich eine Patentlösung dafür in der Schublade liegen oder auf irgendeinem Bierdeckel stehen habe. Ich weiß nur eins: Es muss über Steuergelder gehen, denn die Zeiten des paritätischen Systems sind vorüber. Adieu, Lohnnebenkosten. Tschüss, Krankenkassenbeitrag, so long, ungerechter und komplizierter Versorgungsausgleich bei Scheidung. Ihr hattet Eure Zeit, damals, in der Ära der rauchenden Schlote und der lebenslangen Firmenzugehörigkeit. Vielleicht.