Ich bin jetzt in der 40. Woche schwanger und gedenke, mit
einer Beleghebamme in einer Klinik zu entbinden. Die Hebamme habe ich mir schon
zu Beginn der Schwangerschaft gesucht und bewusst eine gewählt – es gibt in
Leipzig noch aktuell drei, zwei davon sind in „meiner“ Hebammenpraxis tätig –
die regelmäßig Beleggeburten in der Klinik macht (vor 8 Jahren waren es noch
genug, um eine mehrseitige Liste zu füllen). Die1:1-Betreuung ist mir
insbesondere nach einer nicht so schönen ersten Geburtserfahrung sehr wichtig,
und wir lassen sie uns einiges kosten: 700 Euro zahlen wir aus der eigenen
Tasche für die Rufbereitschaft der Hebamme, einen Zeitraum von fünf Wochen (bis
zu 3 vor und 2 Wochen nach dem errechneten Termin), wo die Hebamme nicht
wegfahren kann und ständig für uns über Handy erreichbar sein muss. (Würden wir
im Geburtshaus entbinden, käme noch eine Betriebskostenpauschale von mehreren
hundert Euro dazu, ebenfalls aus der eigenen Tasche zu bezahlen.) Zufällig
fällt das Ende dieser Schwangerschaft ja mit einer Zeit zusammen, in der die
Situation insbesondere der freiberuflichen Hebammen und damit die Situation der
werdenden oder sich erweiternden Familien in den Medien hitzig diskutiert wird.
Neben der schon in letzten Jahren immer wiederkehrenden Problematik der
explodierenden Kosten für die Berufshaftpflichtversicherung, die bereits
massenhaft Hebammen zur Aufgabe ihres Berufs gezwungen hat, ist es derzeit ein
Vorhaben des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen, das die Gemüter
in Wallung bringt. Wenn das Vorhaben umgesetzt wird, wird die an sich im Gesetz
verankerte freie Wahl des Geburtsortes (also: Klinik, zu Hause oder im Geburtshaus)
von werdenden Eltern extrem eingeschränkt. Außerdem gewinnt der errechnete
Geburtstermin zusätzlich an Bedeutung; den Frauen drohen noch stärker als zuvor
medizinisch unbegründete Eingriffe, wenn die Wehen nicht auf Kommando zum
Geburtstermin oder ein bis zwei Tage danach einsetzen – alles im Interesse von
Effizienz und Kalkulierbarkeit. Wer sich ein bisschen mit Geburten auskennt
oder schon mal frischen Müttern zugehört hat, weiß, dass jeder unnötige
Eingriff in diesen von der Natur so fein austarierten Prozess das Risiko
erhöht, dass weitere – nun tatsächliche rettende ‑ Eingriffe nötig werden.
Was das alles kostet! Es kostet Glück und es kostet
Gesundheit, vor allem langfristig, bei der Mutter und beim Baby, aber das sind
Folgen, die man als Klinik getreu dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ sehr
gut ignorieren kann. (Man denke bspw. an die Mikrobiomforschung und was sie uns
alles über die langfristigen Auswirkungen von Kaiserschnitten verrät.) Und es
kostet natürlich Geld. Sehr viel Geld, sogar kurzfristig. Jeder Kaiserschnitt
schlägt mit ungefähr 3.000 Euro zu Buche – aber das zahlt die Krankenkasse,
ohne mit der Wimper zu zucken, während der Luxusschnickschnack der
individuellen Hebammenbetreuung zu einem Großteil den Eltern aufs Auge gedrückt
wird, mit der Folge, dass die Krankenkassen finanziell enorm entlastet werden,
denn eine 1:1-Betreuung ist der beste Garant für eine billige, weil
komplikationsarme Geburt. Eine Spontangeburt in der Klinik kostet die
Krankenkasse nur etwa 600 Euro – ein Schnäppchen, proudly sponsored by
durchgedrehte Ökoeltern.
Aber eigentlich rege ich mich über etwas anderes noch viel mehr
auf. Ich rege mich darüber auf, dass die rechtliche und finanzielle Situation
der Hebammen eine Spaltung verschärft, die vielleicht ohnehin schon immer ein
bisschen bestand oder die vielleicht auch erst durch die Politik ins Leben
gerufen wurde. Die Spaltung, von der ich spreche, ist ein fest in den Köpfen
verankerter Widerspruch zwischen „Bauchgefühl“ auf der einen Seite (der der
Hebammen) und „Wissenschaftlichkeit“ auf der anderen, der medizinischen Seite.
Die Leidtragenden sind natürlich die Eltern, denn von ihnen wird in vielen
Situationen eine unmögliche Entscheidung verlangt. Ich rede von der
Entscheidung, ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes kritiklos einer
esoterisch angehauchten (wenn nicht komplett esoterisch indoktrinierten, ja sogar
aluhutmäßig paranoiden), oft offen wissenschaftsfeindlichen Philosophie
anzuvertrauen, oder es ebenso kritiklos einer Philosophie zu überlassen, die
nicht minder realitätsfern ist, auch wenn sie das Gegenteil von sich behauptet.
Die Herangehensweise der Ärzte hat mit Wissenschaft nicht halb so viel zu tun
wie mit Abwälzung von Verantwortung, sprich mit Haftung und deren Vermeidung.
Das ist alles, nur keine echte Verantwortung für Mutter und Kind, es ist ein
extrem kurzsichtiges Berücksichtigen von Statistiken (wohlgemerkt NICHT von
kausalen Zusammenhängen – den Unterschied stelle ich ja in meinem Buch deutlich
heraus) und den daraus geschlossenen, oftmals an den Haaren herbeigezogenen
„Risikofaktoren“ und deren Minimierung. Ein anderer Grund, warum Kliniken nicht
für sich in Anspruch nehmen können, die Wissenschaft auf ihrer Seite zu haben,
ist einer, der nicht nur für die Geburtshilfe gilt: Krankenhäuser und die
medizinische Praxis generell hinken nun mal einfach 10-20 Jahre dem aktuellen
Stand der Wissenschaft hinterher – weswegen man auch keinem Arzt in einer
Geburtsklinik beim Thema Kaiserschnitt oder auch beim Thema „Antibiose beim
Neugeborenen“ mit dem Wort „Mikrobiom“ als Argument zu kommen braucht.
Die Hebammen hingegen erwarten oft ausgerechnet von Eltern,
die gerade ohnehin aufgrund von Aussagen von Medizinern extrem verunsichert sind,
dass sie quasi von selbst einsehen, dass nur das Bauchgefühl, der innere Dialog
mit dem Kind und eine mysteriöse Sicherheit, die „irgendwie von innen“ kommt,
zählen. Wer diese innere Sicherheit nicht hat, der hat halt Pech und ist
irgendwie doof und sowieso viel zu apparategläubig, ellabätsch, selber schuld.
Weil ja auch Apparate immer abstoßend und schlimm sind. Mein Neffe wäre
allerdings tot, wenn es keine Apparatemedizin und keine Feindiagnostik gäbe.
Nur durch diese Untersuchung wurde festgestellt, dass er einen Herzfehler hat
und direkt nach der Geburt operiert werden muss, um nicht spätestens 1-2 Tage
nach der Geburt zu sterben. Aber solche Fälle werden von Hebammen leider nur
allzu gerne ausgeblendet, oder vielleicht schaffen sie es ja sogar, sich einzureden,
dass meine Schwägerin das irgendwie eigentlich im Gefühl hätte haben müssen,
wenn sie wirklich im Einklang mit ihrem Körper, dem Universum und dem Zen und
dem Yin und Yang gewesen wäre, was natürlich nicht geht, weil Impfungen und
Ultraschalle einem die Chakren vernebeln und so weiter und so fort. Ich glaube,
spätestens jetzt ist klar, was ich mit der unmöglichen Entscheidung meine,
oder? Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Hebammensicht ist so, als
würde man von einem ehemaligen Krebspatienten verlangen, dass er auf die Routineuntersuchungen
in dem berühmten Fünfjahres-Kontrollzeitraum verzichtet, weil er es doch
schließlich „im Gefühl“ haben müsste, wenn er ein Rezidiv bekommt. Wenn er das
nicht tut, pffft, dann hat er sowieso den Draht zu seinem Körpergefühl verloren
und ist am Ende sogar ein bisschen selber schuld, wenn er ein Rezidiv bekommt,
nach dem Motto „selbsterfüllende Prophezeiung“ – wer kein Vertrauen in den
eigenen Körper hat, der fordert ja Krankheiten regelrecht heraus, das ist alles
Schicksal und ergibt alles irgendwie irgendwo einen abgedrehten Sinn. Die
Arztsicht ist so, als würde man von demselben Patienten ständig verlangen,
dass er sich vorsichtshalber operieren lässt, obwohl sehr wahrscheinlich das
Ding auf dem Ultraschall kein Tumor, sondern ein Pickel ist. Absurdes Szenario,
oder? Aber genau vor diese Wahl werden schwangere Frauen ständig gestellt, und die Parallele liegt darin, dass es durchaus
ebenfalls um Leben oder Tod geht.
Ich musste zum Beispiel gestern in der Geburtsklinik ein
Papier (einen so genannten „Aufklärungsbogen“, obwohl der nichts mit Aufklärung
oder wissenschaftlichen Fakten zu tun hat – siehe oben) unterschreiben, auf dem
steht, dass ich mich gegen eine ärztliche Maßnahme (nämlich eine sofortige Einleitung, weil mein Kind angeblich zu klein ist) entscheide, obwohl mir klar
ist, dass meine Entscheidung bedeuten kann, dass mein Kind in utero stirbt. Das
fühlt sich echt scheiße an, denn nein, ich finde es überhaupt nicht OK, wenn mein Kind stirbt, und nein, ich finde es
auch nicht OK, wenn meine Entscheidung so gedeutet wird, als würde ich dies
willentlich oder auch nur leichtsinnig in Kauf nehmen. Habt ihr eigentlich den
Arsch offen, Ärzte, die Leute sowas unterschreiben zu lassen? Ich habe mich
gegen euren bekloppten Rat entschieden, weil ich ihn medizinisch für kompletten
Unfug halte und große Zweifel daran habe, dass ihr gute Gründe für diesen Rat
habt – damit meine ich Gründe, die aus medizinischer, wissenschaftlicher Sicht
haltbar sind. Aber da ihr einem ja nicht verratet, was wirklich genau dahinter steht (weil ihr es selber nicht wisst und
nur irgendwelche QM-Richtlinien befolgt, deren Hintergrund ihr nicht kennt) und
man daher nie hundertprozentig ausschließen kann, dass ihr nicht doch einen
Wissensvorsprung habt, der diese Empfehlung zu einer vernünftigen Empfehlung
macht, die wirklich in meinem
Interesse ist, bleibt ein letzter Zweifel, und dieser Zweifel kann einen
verrückt machen. Aber geh mal mit diesem Zweifel zu deiner Hebamme. Ich hab’s
versucht, und ich wurde nur genauso von oben herab darüber belehrt, dass ich
nun zu meinem gesunden Bauchgefühl zurückfinden müsste, um zu wissen, was
richtig ist. Na vielen Dank auch.
Dieses „gesunde Bauchgefühl“ kann man auch realitätsverneinende
Blauäugigkeit nennen: Unsere Nachbarin hat dank ärztlicher Intervention zwei so
blöde Schwangerschaften und Geburten gehabt, dass sie aktuell bei ihrer dritten
Schwangerschaft beschlossen hat, kein einziges Mal zum Arzt zu gehen. Sie hat
also keinen einzigen Ultraschall machen lassen, nicht einmal zum errechneten
Termin, denn sie hat gestern Nacht mit einer Hebamme zu Hause entbunden. Genau
das ist die letzte Konsequenz aus dem Psychoterror, dem die Frauen und auch die
werdenden Väter unterworfen werfen –man wird einerseits übervorsichtig und will
sich nicht in die Fänge und Mühlen einer gnadenlosen medizinischen Überwachung
begeben, der es vorrangig darum geht, den eigenen Arsch abzusichern, und
andererseits unvorsichtig, nur eben in der anderen Richtung. Hätte das Kind
einen schweren Herzfehler, wäre sein Schicksal nun besiegelt.
Warum muss ich mich entscheiden? Warum ist es werdenden
Müttern nicht beschieden, die medizinischen Möglichkeiten zu nutzen, die die
moderne Technik bietet, ohne sich ihr und den Fallstricken des ärztlichen
„Risikomanagements“ zu unterwerfen? Ich habe es versucht – genau das war mein
Plan, indem ich diese Variante der Beleghebamme in Kombination mit der
Geburtsklinik und den Routineuntersuchungen beim Frauenarzt wählte. Und dennoch
bin ich gescheitert und bin mit beiden Seiten des Systems zusammengerasselt.
Das ist nicht OK, und es bestätigt, was ich schon die ganze Zeit innerlich
anprangere: der vermeintliche Widerspruch zwischen weitgehend ungestörter
Geburt und medizinischer Vernunft muss im Interesse von Eltern und Kind
aufgelöst werden. Der nimmt nämlich sogar so absurde Züge an, dass sowohl Arzt
als auch Hebamme in gewissen Situationen beleidigt sind, wann immer sie vermuten,
dass man dem jeweils anderen mehr glaubt: die Eltern kommen in Erklärungsnot
und müssen ihre Loyalität unter Beweis stellen oder sich für angeblich fehlende
Loyalität rechtfertigen, wo es doch eigentlich die Dienstleister sein sollten,
für die Loyalität gegenüber den werdenden Eltern und dem werdenden Leben eine
Selbstverständlichkeit sein sollte.
P.S. Inzwischen habe ich entbunden (eine komplett interventionsfreie Wassergeburt von
ganzen dreieinhalb Stunden, übrigens mit dem Ergebnis eines total gesunden und überhaupt nicht zu kleinen Kindes) und bin mit meiner Hebamme wieder versöhnt. Ich
stehe inhaltlich zu dem, was ich in diesem Beitrag ausgeführt habe, nämlich dem
Anprangern der Tatsache, dass Eltern wie ich sich wie zwischen zwei Stühlen
sitzend fühlen. Dennoch empfinde ich jetzt, dass diese Ausführungen nicht
komplett wären, wenn ich nicht betonen würde, wie gut ich bei meiner Hebamme
aufgehoben war und dass diese Geburtserfahrung sicher anders und ungleich
schlechter gelaufen wäre, hätte ich mich ohne eigene Hebamme in die Hände der
Klinik begeben. Meine Hebamme ist eine erfahrene Beleghebamme, die schon viele Klinikgeburten begleitet hat; sie hat mir versichert, dass ich sogar in diesem relativ entspannten Kreißsaal einen Wehenbeschleuniger bekommen hätte, weil meine Wehen anfangs so schwach waren. Ich sage nur: Interventionskaskade.
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